Gothaer Turnverein 1860 e.V.
Geschichte des Vereins
Aus der Geschichte des Kinderturnens
Nach dem Ersten Weltkrieg machten sich einige Sportfreunde von unserem „Turnverein Gotha 1860“ Gedanken über den Nachwuchs in ihrer Disziplin. Sie erkannten den Vorteil, schon im Kindesalter die Begeisterung zum Turnen zu wecken, um der Jugend einen besseren Einstieg in den Sport zu ermöglichen. Zu den ersten Kindern, die an Übungsstunden teilnahmen, zählten die Söhne der Alt-Turner. Das Gruppenbild des Turnvereins (unten) aus den Jahren 1920/23 zeigt die jüngsten Turner, mit knielangen Hosen und Hosenträgern sowie weißen Hemden, auf denen das handgestickte Emblem des Gothaer Vereins aufgenäht war.
Der erste Lehrgang für das Kinderturnen in Thüringen zeigt, wie weit schon die Gothaer Turner eine Vorreiterrolle einnahmen. Er fand am Samstag, dem 14. April 1923, in der „Staatsturnhalle“ statt. So hieß seit 1920 die Übungshalle des Vereins im Scheliha-Garten (heute die Trainingsstätte der Gewichtheber). Es dauerte jedoch noch Jahre, bis sich das Kinderturnen durchsetzte. Vor allem mussten die Eltern von den Vorteilen der Leibesübungen überzeugt werden. Die beiden Leiter der Kinderabteilung, Cilla Huck und Felix Grosch, widmeten sich mit großer Hingabe dieser Aufgabe.
Als sie 1927 einen Elternabend im Parkpavillon vorbereiteten, gehörten bereits mehr als 100 Kinder dem Turnverein an.[1] Cilla Huck zeigte mit 60 Mädchen eine Freiübung im Saal, und unter Leitung von Felix Grosch präsentierten sich 50 Jungen mit einem Übungsablauf. Auf der Bühne zeigten die Kinder ihr Können im Geräteturnen und führten Volkstänze, Sing- und Neckspiele vor. Alles gehörte zum Repertoire des damaligen Kinderturnens. Cilla Huck war an der preußischen Hochschule für Leibesübungen in Spandau zur Vorturnerin ausgebildet worden. Sie verstand es, den Gästen im Saal des Parkpavillon auf die Bedeutung des Kinder-, Mädchen- und Frauenturnens für die körperliche Entwicklung hinzuweisen, um weitere Kinder für den Vereinssport zu gewinnen. Die Übungsstunden bei Cilla Huck fanden für die 9- bis 11-jährigen Mädchen am Freitag und die 12- bis 14- jähren am Dienstag jeweils von 18 bis 20 Uhr statt.[2] Die Kinder zeigten ihre Leistungen nicht nur zu Turnfesten, sondern auch auf Veranstaltungen von Vereinen. So war der Landwirtschaftliche Hausfrauenverein ganz begeistert von den Aufführungen der Mädchen.
Einen besonderen Verdienst erwarb sich der Gothaer Turnverein seit 1926 mit der Durchführung von Ferienspielen. In der Turnzeitung hieß es dazu: „Jahr für Jahr werden dem Wohlfahrtsamt von verschiedenen Stellen, von der Schule, von Ärzten, Schwestern und Eltern Kinder gemeldet, die dringend eine Erholungskur benötigen. Die Kinder können natürlich nicht alle eine teure Kur genießen. Ihnen ist schon mit weniger geholfen. Sie brauchen vor allem Sonne, frische Luft, Frohsinn und Freude und das alles ist nicht teuer, kostet eigentlich überhaupt nichts - nur Engagement. Der Turnverein Gotha hat dies im vorigen Jahr durch Einrichtung und Durchführung der Gothaer Ferienspiele bewiesen. Und in diesem Jahr wird es wieder so sein.“[3]
Die Ferienspiele auf dem Boxberg fanden für jene Kinder statt, die aus Kostengründen nicht mit ihren Eltern in die Berge, an die See oder an einen anderen Urlaubsort fahren konnten. Bei den Ferienspielen des Turnvereins sollten sie die Natur genießen und für wenige Tage aus den engen Gassen und staubigen Straßen[4] von Gotha hinausgeführt werden. Vorerst wurden nur Jungen von sechs bis vierzehn Jahren aufgenommen. Zwei Jahre später konnten auch Mädchen teilnehmen, für die Cilla Huck die Betreuung übernahm.
Die Kinder fuhren am Montag, Mittwoch und Freitag um 8.00 Uhr vom Myconiusplatz mit der Waldbahn ab und kamen abends wieder mit dieser Bahn zurück. Von der Haltestelle Boxberg bewegte sich der lange Zug der Spielteilnehmer bis zur idyllischen Wiese unterhalb der Gaststätte am Waldblick. Dort wurde gespielt, geturnt, gesungen, gewandert, gebastelt und im Leinakanal gebadet. Täglich gab es zwei Mahlzeiten. Durch das Zusammensein in der Gemeinschaft wurde das Gefühl für Solidarität und Kameradschaft geweckt. Bei der regelmäßigen Gymnastik versuchten die Turner besonders „Rumpfverbiegungen“ durch Kräftigungsübungen der Bauch-, Rücken- und Brustmuskulatur auszugleichen.
Der organisatorische Aufwand, der in den Händen des Oberamtsanwaltes und Turners Otto Euchler lag, war enorm groß. Damals sprachen sich Vereinsmitglieder und sogar prominente Gothaer Persönlichkeiten gegen die Durchführbarkeit der Spiele aus. Die Gründe waren die Finanzierung, die Betreuung und Beköstigung der vielen Kinder. Aber die Organisatoren waren zuversichtlich, weil sich vor allem arbeitslose Turner für die Betreuung der Kinder engagierten. Außerdem sprachen sie die Vereinsmitglieder an, die noch in Arbeit standen, und baten, ihren Urlaub so zu legen, dass sie wenigstens einige Tage auf dem Boxberg mit helfen konnten. So kamen die meisten Helfer aus den Reihen unseres Turnvereins und des Arbeiterturnvereins, aber auch Schüler bzw. Schülerinnen der höheren Schulen stellten sich für die Arbeit mit den Kindern zur Verfügung.
Um die Aufgaben zu bewältigen, rief der Turnverein zum Spenden auf. Viele Mitglieder sammelten bei Privatpersonen und Geschäftsleuten Geld und Lebensmittel. Im Sommer 1927 stiftete die Stadtverwaltung Gotha das Mittagessen für 400 Kinder.[5] Die Gothaer Turnzeitung schrieb 1931: „Einen Höhepunkt der Sommerferien in diesem Jahr bildeten wieder die Gothaer Ferienspiele. 700 Knaben und 500 Mädchen erlebten eine wahrhafte Ferienerholung. Es waren nicht weniger als 7500 Besucher zu verzeichnen. 2500 Liter Milch, verschiedene Zentner Fleisch und Reis wurden trotz schwerer Notzeit aufgebracht. Trotz der schweren Zeit, zeigte sich eine außergewöhnliche Opferbereitschaft der Gothaer Bevölkerung.“[6] Auch die Bewegungsschule von Ernst Triebel im Turnverein steuerte aus Einnahmen von Auftritten im Landestheater 7.000 RM bei.
Der Verein wirkte durch die Ferienspiele in sozialer Hinsicht vorbildlich in der Deutschen Turnerschaft und wurde dafür weit über Gothas Grenzen hinaus bekannt.[7] Im zweiten Jahr waren bereits 5.600 Kinder betreut worden. Sogar das Thüringische Staatsministerium in Weimar forderte 30 Exemplare der Gothaer Vereinszeitung an, „um sie als eine vorbildliche Haltung zur Jugendpflege und Fürsorge an die Kreisämter zu übergeben. Auch die Ferienspiele von Gotha sollen als Vorbild andere Städte Thüringens mobilisieren.“[8] So entwickelten sich die Gothaer Ferienspiele von 1926 mit etwa 2000 Teilnehmern bis 1932, als rund 9500 Kinder betreut wurden.[9]
Als die NSDAP durch die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichkanzler am 30. Januar 1933 an die Macht kam, wurden alle Arbeiterorganisationen verboten und die bürgerlichen Vereine „gleichgeschaltet“. Die Gothaer Turner wurden dem nationalsozialistischen Deutschen Reichsbund für Leibesübungen eingegliedert und erhielten eine „Einheitssatzung“. „Das Zeitalter des individualistischen Sportbetriebes ist vorüber,“ hieß es darin. Die „Stätten der Leibesübungen“ sollten „Pflanzstätten soldatischer Tugenden“ werden. Um die
Erziehung im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie durchzusetzen, wurden die Turnerkinder zum Jungvolk und die Jugendlichen zur Hitlerjugend verpflichtet.[10]
Dabei spielte die Wehrerziehung eine dominierende Rolle. Das Kreisblatt Thüringen lobte im März 1933[11], dass die Jugend des Turnvereins Gotha bereits mit dem Wehrturnen begonnen habe. In einem Wehrzeltlager im Juni 1933, das vermutlich auf dem Boxberg stattfand, wurden die jungen Turner im Geländespiel und in wehrsportlichen Übungen trainiert. Das Kinderturnen spielte insofern keine große Rolle mehr, wenn auch der Arbeitsplan für den „Kreis Wartburg“, zu dem nun die Gothaer Turner gehörten, einen Kreislehrgang für das Kinderturnen in Creuzburg vorsah.
Die Blütezeit des Vereins in der Mitte bis Ende der zwanziger Jahre war vorbei. Einen weiteren gewaltigen Einschnitt in das Vereinsleben brachte der Zweite Weltkrieg. Die jungen Turner wurden zur Wehrmacht eingezogen. Einigen kostete es ihr Leben, andere kehrten als Krüppel zurück und konnten nicht mehr am sportlichen Leben teilnehmen.
Das Vereinsleben wurde jetzt hauptsächlich von den älteren Jahrgängen und den Frauen wahrgenommen. Die Turner der „Riege Schwung“, die seit 1923 das Aushängeschild des Gothaer Turnvereins waren, gehörten nicht den Jahrgängen an, die in den Krieg ziehen mussten. Sie hatten Kinder, die in den Jahren 1934/36 geboren wurden und die nun der Tradition verpflichtet, eine neue Generation im Kinderturnen begründeten.
Das seltene Bild (rechts) der jüngsten Kindergruppe im Scheliha-Garten – vermutlich 1941 – zeigt ganz rechts Martin Bonsack, Sohn von Wilhelm Bonsack, der der „Riege Schwung“ angehörte. Zur Riege zählte auch Walter Tröber, der seine Tochter Helga (die Autorin Dr. Helga Raschke) für das Kinderturnen begeisterte. Sie steht ganz links. Hinter ihr Cilla Huck und Schabacker, der dem Übungsleiter Felix Grosch nachgefolgt war. Die Namen der anderen Kinder sind leider nicht bekannt, vielleicht können uns die Leser weiter helfen!
Einen grundlegenden Umschwung im Verlauf des Zweiten Weltkrieges zeichnete sich mit der Niederlage der Deutschen Wehrmacht in der Schlacht bei Stalingrad (Wolgograd) im Februar 1943 ab. Seitdem schwanden unter den Frontsoldaten wie auch unter der Bevölkerung die Illusionen von einem deutschen "Endsieg". Um die sich abzeichnende Krisensituation zu
überwinden, proklamierten die herrschenden Kreise Deutschlands den "totalen Krieg". Alle Kräfte an der Front und in der Heimat sollten noch rücksichtsloser eingesetzt werden. Bis auf die Rüstungsbetriebe und solche, die wichtige Nahrungsgüter herstellten, wurden alle anderen geschlossen. Die damit frei gewordenen Arbeitskräfte kamen an die Front oder mussten in der Kriegsproduktion arbeiten. Diese Maßnahme betraf viele Handwerks- und Kleinbetriebe, Kultureinrichtungen und Vereine. Die bisher wehr-dienstuntauglichen Männer, also auch die älteren Turner, sowie die Frauen wurden in die Kriegsmaschinerie eingegliedert. Damit hörte auch das Kinderturnen auf.
Nach dem Krieg kam es trotz großer materieller Schwierigkeiten und harter Lebensbedingungen bereits Anfang 1946 im Kreis Gotha zu ersten Sportveranstaltungen. Mitglieder der 1945 aufgelösten nationalsozialistischen Sportvereine konnten unter neuem Namen eine Neugründung beantragen, die vom Sportausschuss und Thüringer Ministerium des Innern zu registrieren und zu genehmigen war. Auf dieser Grundlage entstand im März 1948 die “1. Sportgemeinschaft Gotha”. Ab November hieß sie “1. Sportgemeinschaft Vorwärts Gotha”[12], der die Turner als Sparte angehörten. Die Übungsstunden fanden in der Turnhalle Lutherschule statt. Zu diesen ersten Aktiven zählten Hanni Schneegaß, Ursel Anschütz (verh. Klottig), Ursel Willing (verh. Weibezahl), Idchen Vinz, Wilhelm Klottig, Karl Rose, Erich Schottmann, Paul Lemser, Heinz Österheld, Herbert Schnelle, Gerhard Köhler, Erich Zeidler, Hermann Henselmann[13] und Karl Trautvetter.
Später kamen jüngere Turner und Turnerinnen hinzu, darunter die Kinder von alten Turnern und der „Riege Schwung“. Dazu zählten u. a. Martin Bonsack, Dieter Köhler, Dieter Schaar, Dieter Beese, Achim Stötzer, Erika Unruh, Helga Tröber, Dieter Rüffer, Eberhard Lerche, Rolf Schottmann, Jürgen Emmerich, Werner Riede und Wolfgang Schwob.
Ein neuer Entwicklungsabschnitt in der Sportbewegung begann mit der Bildung von Betriebssportgemeinschaften (BSG) seit 1948. Die Betriebe waren verpflichtet, die Sportgemeinschaften materiell und finanziell zu unterstützen. Neue Impulse erhielt das Kinderturnen, nachdem der Schulsport seit den 50er-Jahren eingeführt war. Um Turnernachwuchs heranzuziehen, warben die Übungsleiter in den Schulen für den Kinder- und Jugendsport. Durch persönliche Kontakte und Werbung konnten bis Jahresanfang 1959 in fast allen Sportgemeinschaften des Kreises Gotha Kinderabteilungen aufgebaut werden, die den Nachwuchs sicherten. Als gute Beispiele stellte die Tagespresse die Betriebssportgemeinschaft (BSG) Einheit Gotha heraus, wo der Mitgliederbestand von 40 auf 163 Turnkinder seit Jahresbeginn 1959 angestiegen war.[14] Die bewährte Trainerin der Jüngsten war Lilo Mihacz.
Durch die engagierte Arbeit der Übungsleiter nahm das Kinderturnen der BSG Einheit Gotha an Quantität und Qualität so zu, dass 1962 bereits 335 Jungen
und Mädchen im Alter von 6-14 Jahren regelmäßig trainierten und ein beachtliches Leistungsniveau zeigten.
Eine neue Zäsur im Kinder- und Jugendsport leiteten die Kreis- Kinder- und Jugend-spartakiaden ein. Damit wurde an internationale Trends zur Talentsichtung und Verjüngung im Wettkampfeinstiegsalter angeknüpft. Mit der Gründung von Trainingszentren wurde den jüngsten Turnern noch mehr Beachtung geschenkt. Das Gothaer TZ gehörte zur Turnsparte Einheit und hatte die Aufgabe, Kinder im Vorschulalter auf die Kinder- und Jugendsportschule vorzu-bereiten. Damit erhielt Gotha die erste hauptamtliche Trainerin im Turnen. Von 1977 bis 1987 nahm Ingrid Bonsack und seit 1979 bis zum Ende des Trainingszentrums 1989 Birgit Bonsack diese Stelle ein. Zwei- bis dreimal in der Woche kamen die Kinder zum Turnen. Das setzte eine gute Zusammenarbeit mit den Eltern voraus, die ihre Jüngsten bringen und abholen mussten. Auch bei Wettkampffahrten, Wanderungen, Festen, im Trai-ningslager oder als ehrenamtlicher Übungsleiter unterstützen die Eltern die sportliche Laufbahn ihrer Kinder. Obwohl viele Kinder die Normen schafften, fanden nur wenige den Weg zur Sportschule, aber sie zählten zu den erfolgreichen Turnerinnen und Turnern der Sektion auf Kreis- und Bezirksebene.
Nach 1990 standen für einen hauptamtlichen Trainer keine Mittel mehr zur Verfügung. Mit dem Ende des Trainingszentrums hatten die Kinder die Möglichkeit, im 1990 neu gegründeten „Gothaer Turnverein 1860 e.V.“ ihrem sportlichen Hobby nachzugehen. Heute bewältigt Birgit Bonsack mit vielen Ehrenamtlichen den Übungsbetrieb für ca. 170 Kinder. Das jährliche Weihnachtsturnen zeigt die Begeisterung der jüngsten Turnerinnen und Turner. Nach Gründung eines Fördervereins des Gothaer Turnvereins im Jahre 1997 finden seit 2000 in Schönau v.d. Walde jährlich Zeltlager statt, wo die Turnkinder bei Wandern, Sport, Spiel und Spaß erlebnisreiche Ferientage verbringen.
Dr. Helga Raschke
Anmerkung der Redaktion:
Wir danken Frau Dr. Raschke für ihre engagierte Mitarbeit.
[1]Unser Turnverein, Vereinsorgan des Turnvereins Gotha e.V., 6/1927; 7/1927.
[2] Ebd., 1.Jg. Nr.2, Mai 1926.
[3] Ebd., 9/1927.
[4] „staubig“ weil nur wenige Straßen eine feste Decke besaßen.
[5] Unser Turnverein, Vereinsorgan des Turnvereins Gotha e.V., 24/1927. So groß war vermutlich ein Durchgang.
[6] Ebd.,31/1931.
[7] Ebd., 11/1927.
[8] Ebd., 10/1927.
[9] Kreisblatt für den XIII. deutschen Turnkreis Thüringen, Schleiz, 33/1932.
[10] Mitteldeutsche Turnzeitung. Gau 6 Mitte der Deutschen Turnerschaft, 46/1933.
[11] Kreisblatt für den XIII. deutschen Turnkreis Thüringen, Schleiz, 10/1933.
[12] 90 Jahre SV Wacker 07 Gotha, Gotha 1997, 9-11.
[13] Der Berliner Architekt war Ende des Krieges nach Gotha gezogen, weil seine Wohnung bombardiert war.
[14] Das Volk. Organ der Bezirksleitung der SED, 26.1.1959.